Intersubjektivität als Chance: Soziologische Diskussionsromantik vs. Potenzial einer Metawissenschaft

[Thema] Zur Positionierung des Konzepts "Intersubjektivität" im aktuellen kommunikatioswissenschaftlichen Diskurs

[Anlass] Passage „Kommunikation als Chance“ im Artikel von Dr. A. Schelske

© Leon R. Tsvasman 2007

Die in der o.g. Passage zum Stichwort „Intersubjektivität“ (weiter „I.“) suggerierte Abgeschlossenheit des Diskurses, die aus einer angeblich unüberwindbaren Kontroverse zwischen I. und Systemtheorie ausgeht und auf die Diskussion zweier Soziologen zurückgeführt wird, erscheint mir eine argumentative Vereinfachung zu verbergen, welche auch Studienanfängern als zu simpel auffallen muss. Einem strengen Soziologen, der sich einer strickt analytischen Dankkultur verpflichtet sieht, mag die historische Diskussion als abgeschlossen erscheinen, doch ausgerechnet für eine interdisziplinäre – also nicht ausschließlich soziologische – Bertachtung der Kommunikation, zu der eine Kommunikations- oder Medienwissenschaft gerade zu verpflichtet ist, wenn sie sich als eine mindestens inter- und potentiell metadisziplinäre Wissenschaft versteht und sich von der Soziologie weiter emanzipieren will, muss I. aktuell bleiben: Beim inhaltlichen Entwerfen des Lexikons erschien es mir deshalb mindestens unfair, den Studierenden die Erklärung eines interdisziplinär unumgehbaren Konzepts vorzuenthalten, der die interdisziplinäre Ausrichtung und potentielle methodologische und erkenntnistheoretische Selbständigkeit ihrer Faches begründen vermag. Der per Konzept deskriptiv-orientierender Charakter eines Lexikonartikels fordert außerdem gerade die Darstellung historisch divergenter oder aktuell konkurrierender Thesen, ohne eine diskursive Diskrepanzanalyse zu verlangen (was den Rahmen und die Bestimmung eines primär orientierenden Sammelwerks sprengen würde).

Auch wenn die streng soziologische Aktualität des Konzepts I. angezweifelt wird, kann ich seine intedisziplinäre Potenzialität und kommunikationswissenschaftliche Bedeutung nicht ignorieren. Als eine inter-, trans- und sogar metadisziplinär fähige Kategorie, weist I. auf der pragmatischen Ebene (trotz der für die Medienpraktiker gewöhnungsbedürftigen Abstraktivität) eine hohe Praxisrelevanz auf. Mindestens deshalb ist I. im Kontext der medien- und kommunikationszentrierten Studiengängen nicht nur als bedeutender „historischer“, sondern als aktueller Konzept zu sehen, das weder negiert noch tatsächlich überwunden werden kann. In Anlehnung an von Glasersfeld, der I. als eine Gesamtheit der für die Übereinstimmungen unseres Erlebens stehenden kommunikativen Vereinbarungen konzeptualisiert, sehe ich keine andere pragmatische (also in der Praxis umsetzbare) Erklärung für die gemeinsame Wirklichkeit, welche vor allem die naivrealistischen Vorurteile mit ihrem Kausalitätsdenken überwinden kann: Eine geklärte Stellungnahme zu naivrealistischen Prämissen oder mindestens erkenntnistheoretisch sensible Diskussion ist für Medienwissenschaften von substantieller Bedeutung. Dabei ist es bei weitem keine Selbstverständlichkeit, dass „strukturelle Kopplung“ (zumindest in einer der Nicht-Luhmannschen Auslegungen) eine unhinterfragbare Kontoverse zur dynamischen I. bzw. zum Prinzip der Konsensualität – als Alternative zur naivrealistischen „Objektivität“ oder als ihre begriffliche Neufassung – darstellen muss, zumal mir auch keine diferenztheoretische Abgrenzung zwischen I. und Interpersonalität bekannt ist, die einleuchtend genug wäre, um diese vordergründig lexikalisch oder auch hochschuldidaktisch fokussieren zu müssen. Leider ließe sich meine eigene Auffassung von I. in dem knappen Lexikonartikel erst gar nicht formulieren, so dass ich mich bei einer Gelegenheit gerne mit meinem Beobachterkonzept dazu äußern werde.

Aus dieser Perspektive soll etwa die evolutionsbiologische Erklärung in Anlehnung an Gerhard Roth genügen, die Gemeinsamkeisdeterminanten der „kommunikativen Vereinbarungen“ (Humberto Maturana operiert in diesem Zusammenhang mit dem Begriff „Beobachteräquivalenz“) mit ontogenetischer Beschaffenheit des menschlichen Gehirns zu begründen. Die Erklärung ist robust genug, um sowohl geistes- als auch naturwissenschaftlichen Kriterien zu genügen (eine m.E. wichtige Voraussetzung der kommunikations- und medienwissenschaftlich zu verstehender Metadisziplinarität, die - mindestens als Anspruch - der perspektivischen Selbstdefinition beider Disziplinen nicht verwehrt sein darf). Zwar läßt sich subjektphilosophische Betrachtungsweise damit nicht abschließend legitimieren, so dass die nicht immer angemäßen überspitzte soziologische Diskussion über den „langsamen Tod des Subjekts“ aufrechterhalten bleiben muss, doch verbleiben noch weitere außersoziologische Erklärungsoptionen offen. Die meisten (s. von Glasersfeld, Maturana, Hejl, Schmidt) operieren mit dem Begriff des Beobachters, der radikal-konstuktivistische Erkenntnistheorie begründet (s. auch Schmidt 1993). Auch die für die Überwindung der soziologischen Kontroverse um die systemkonforme Bertachtung des Subjektbegriffs durchaus fruchtbaren Ansichten von Bateson, Varela, Watzlawik, Ungeheuer und von Foerster sind bei weitem nicht zu verachten. Abgesehen davon, dass werder Luhmannsche Ablehnung noch Habermasschesystemfremde“ Konzeption der I. sich an die Verpflichtung halten mussten, der metardisziplinären Ansprüchen einer Kommunikationswissenschaft zu genügen, darf an dieser Stelle noch betont werden, um auf die Argumentation der umstrittenen Passage des Kritikers zurück zu kommen, daß dort beide Positionen unangemessen vereinfacht wurden. Zwar macht Lumannsche Beweisführung (Luhmann 1986, S. 54.) ein Konzept von I. überflüssig, lässt die Systemtheorie Luhmanns jedoch selbst eine Reihe kommunikationswissenschaftlich relevanter Sachverhalte ungeklärt, um als unumstrittene Grundlage jeder Kommunikationstheorie zu gelten. Luhmann radikalisiert lediglich die Diskussion um die Subjektlogik bzw. den Stellenwert des Subjekts in den soziologischen Gesellschaftstheorien, indem „das absolute Subjekt“ durch den „Absolutismus des subjektlosen Systems“ austauscht (s. A. Weber 2005). Eine transdisziplinäre Kommunikationstheorie ist hingegen weder mit Luhman noch mit Habermas ausreichend gegeben, also darf der kompromissfähige Diskurs auch nicht abgeschlossen sein oder als „historisch“ gelten.

So mag eine lokal tradierte Auffassung der sozialen Wirklichkeit und ihrer Dynamik gerne in Turbulenzen geraten, dürfen wir uns auch systemtheoretischer Ansätze bedienen, die diese Sachverhalte über den kommunikationswissenschaftlich tragbaren Begriff der I. erklären. Beispielsweise erscheint mir die Parallelisierung kognitiver Systeme durch Interaktion (Hejl 1987) als eine sowohl soziologisch und systemtheoretisch sowie kommunikationswissenschaftlich genügende Begründung für I. Aus dieser Perspektive lassen sich mit Hilfe von orientierungstheoretischen Zugängen nicht nur kommunikationspraktische, sondern auch medienkulturelle, -ethische, -rechtliche und -pädagogische, aber auch verwaltungs-, medien- und kommunikationstechnische Zusammenhänge durchaus konsensfähig begründen.

Am Rande ist zu betonen, dass eine Diskussionskultur, die manche Kontroversen überspitzt unüberwindbar erscheinen lässt, nicht immer im Sinne der wissenschaftlich geforderten Falsifizierbarkeit fruchtbar sein muss. Allein die Fokussierung auf die Kontroverse (oft zum Selbstzweck, was dem polemischen Geist, dem Geltungs- und Selbstbehauptungsanspruch junger Wissenschaftler, der mancherorts gerade zu gefördert wird, durchaus entsprechen mag), lässt den analytischen Umgang mit fremden Texten hin und wieder an die Grenze der hermeneutisch legitimierten Manipulation treiben. Ganz persönlich erscheint mir der synthetischer Anspruch mancher kybernetisch* denkenden Konstruktivisten, der unter anderem darin besteht, konsensfähige metadisziplinäre Konzepte zu profilieren, wesentlich korrekt und vor allem für Kommunikations- und Medienwissenschaften nachhaltig förderlich; denn der pragmatischen Funktionalität der Umsetzbarkeit verpflichtet, sollen sich kommunikationswissenschaftliche Modelle vor allem wirklichkeitsfähig verhalten.

*zum Begriff der Kybernetik [als Denkweise und Metadisziplin] s. Glasersfeld, E. von: „Kybernetik“ in: Tsvasman, L. (Hrsg.) 2006.


Nachlesenswet im Zusammenhang:

Schmidt, Siegfried J. (1993): Zur Ideengeschichte des Radikalen Konstruktivismus, in: Florey, Ernst/Breidbach, Olaf (Hrsg.): Das Gehirn – Organ der Seele? Zur Ideengeschichte der Neurobiologie. Berlin: Akademie-Verlag 1993, 327-349.
Weber, A. (2005): Subjektlos. Zur Kritik der Systemtheorie, Konstanz.
Roth, G. (1994) Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
Pauen, M., Roth G. (Hrsg.): Neurowissenschaften und Philosophie, München 2001.
Husserl, E., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Dritter Teil: 1929–1935; in: Husserliana, Bde XIII–XV, hrsg. von I. Kern, M. Nijhoff, Den Haag 1973.

1 Kommentar:

Andreas Schelske www.SoziologischeBeratung.de hat gesagt…

Lieber Herr Tsvasman,
ich möchte Ihnen eine kurze Resonanz auf Ihre Kritik geben, um nachvollziehbarer zu machen, warum ich folgende Sätze in der Passage meiner Buchkritik geschrieben habe. Ich schrieb:

„So versucht Tsvasman einen systemtheoretischen Begriff der Intersubjektivität auf Basis des kommunikativen Handels zu begründen. Ein solcher Definitionsversuch bringt zweifelsohne die deutsche Soziologie in gehörige Turbulenzen. Denn insbesondere der Systemtheoretiker N. Luhmann lehnte den Begriff der Intersubjektivität strikt ab, indessen J. Habermas selbstverständlich Intersubjektivität im kommunikativen Handeln niemals als einen systemtheoretischen Begriff beschrieb.“ (Buchrezension 2007, Andreas Schelske, www.webcritcs.de)

Meine Kritik begründet sich zunächst darin, dass keine andere Wissenschaft als die Soziologie den Begriff der Kommunikation als ihren wichtigsten Ausgangsbegriff benennt. Insbesondere meinen Soziologen, dass menschliche Gesellschaften ohne Kommunikation bzw. kommunikatives Handeln nicht möglich sind. Aber selbstverständlich hat die Soziologie den Begriff der Kommunikation nicht für sich gepachtet, sondern jede andere Wissenschaft definiert eigenständig ihren Begriff der Kommunikation. Trotzdem werden Soziologen sehr hellhörig, wenn Sie in Ihrem Lexikonartikel zur „Intersubjektivität“ im ersten Satz schreiben:

„Dem Konzept der Intersubjektivität liegen jene systemtheoretisch inspirierten Ansätze zugrunde, die sämtliche Ereignisse des zwischenmenschlichen Interagierens aus dem Zusammenhang der wechselseitigen Beziehungen – des kommunikativen Handelns ggf. der gegenseitigen Handlungsbeeinflussung – der beteiligten Personen erklärt. Da Individuen mit ihren jeweils aktuellen Erkenntnissen die sinnhaften Inhalte beim gemeinsamen medial-kommunikativen Handeln konstituieren, wird Intersubjektivität als grundlegendes konstruktives Prinzip der kommunikativen (auch sozialen) Wirklichkeit verstanden.“ (Tsvasman 2006, S. 176)

Sobald der Begriff des „kommunikativen Handels“ fällt, denken zumindest Soziologen sofort an Jürgen Habermas und seine „Theorie des kommunikativen Handels“. Und Habermas schreibt nun sehr ähnlich wie Sie:
„Diese intersubjektiv geteilte Lebenswelt bildet den Hintergrund fürs kommunikative Handeln. Deshalb sprechen Phänomenologen wie A. Schütz von der Lebenswelt als dem unthematisch mitgegebenen Horizont, innerhalb dessen sich die Kommunikationsteilnehmer gemeinsam bewegen, wenn sie sich thematisch auf etwas in der Welt beziehen. (Habermas 1988, S. 123)

Aus soziologischer Perspektive wäre es allerdings unzutreffend, den Ansatz von Habermas als systemtheoretisch zu bezeichnen, vielmehr bezieht sich die Theorie des kommunikativen Handels auf Konzepte der Phänomenologie und der Lebenswelt. Unter Systemtheorie vertritt Niklas Luhmann einen Ansatz, der zumindest in Deutschland sehr bekannt geworden ist. Und es ist zumindest für die soziologische Systemtheorie Luhmannscher Prägung unzutreffend zu behaupten, dass dem Konzept der Intersubjektivität ein systemtheoretischer Ansatz zugrund liegt. Denn für Luhmann ist „Intersubjektivität überhaupt kein Begriff, sondern eine Verlegenheitsformel, die angibt, dass man das Subjekt nicht mehr aushalten oder nicht mehr bestimmen kann.“ (Luhmann 1995, S. 169)
Luhmann, und das wollte ich benennen, lehnt den Begriff der Intersubjektivität für seine soziologische Systemtheorie ab. Eventuell gibt es andere deutsche, soziologische Systemtheorien, die den Begriff der „Intersubjektivität“ begründen können, doch mir sind sie bisher nicht bekannt, weshalb ich schrieb, dass Ihr Definitionsversuch die deutsche Soziologie in erhebliche Turbulenzen bringt.

Im Übrigen begründet Luhmann die Ablehnung der Intersubjektivität mit folgender Feststellung:
„Alles was man als „inter“ bezeichnen könnte, wird über Systemgrenzen hinweg beobachtet und ist daher für jedes System ein anderes ´inter´. Es gibt danach keine systemfrei objektivierbare, keine ontologisch Welt. Erreichbar ist nur, dass ein System beobachtet, was ein anderes System beobachtet. Die ontologische Welt-Theorie“ muss durch eine Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung oder, um mit Heinz von Foerster zu formulieren, durch eine „second oder cybernetics“ ersetzt werden.“ (Luhmann 1995, S. 178)

Ich hoffe, ich konnte Ihnen mit meiner Darlegung und den Zitaten verdeutlichen, warum ich behaupte, dass ein „systemtheoretischer Begriff der Intersubjektivität“ ein gehöriges Problem für Soziologen darstellt und keineswegs mit der Theoriegeschichte der Soziologie kompatibel ist. Eventuell gibt es systemtheoretische Theorien in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, in denen Intersubjektivität systemtheoretisch hergeleitet wird, doch über andere Disziplinen als die Soziologie habe ich keine Aussage gemacht. Schon meine Resonanz sollte deutlich gemacht haben, dass weder ein wissenschaftlicher Diskurs abgeschlossen ist noch dass es unüberwindbare Kontroversen geben muss. Die Dialogfähigkeit scheint mir eine Grundvoraussetzung jeder Wissenschaft und einer Gesellschaft selbst, für mich ist sie jedenfalls eine Selbstverständlichkeit.

Ich verbleibe mit besten Grüßen aus Hamburg
Andreas Schelske
http://www.SoziologischeBeratung.de

Weiterführende Literatur:

Schelske, Andreas 2007, Rezension zu Das Große Lexikon Medien und Kommunikation, in: http://www.webcritics.de/page/book.php5?id=1141

Luhmann, Niklas 1995, Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung. S. 169-188, in: Soziologische Aufklärung 6, Die Soziologie und der Mensch, Opladen

Habermas, Jürgen 1988, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1, Frankfurt a.M.

Tsvasman, Leon R. 2006, Das Große Lexikon Medien und Kommunikation